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ChatGPT: Disruption oder Hype für den Kapitalmarkt?
Schon lange haben wir uns bei der DVFA mit der Frage beschäftigt, welchen Einfluss künstliche Intelligenz (KI) für die Investment Professionals haben wird. Heute zeigt sich, dass die KI einen erheblichen Einfluss auf den Finanzmarkt haben wird, da sie die Effizienz erhöhen und die Entscheidungsfindung beschleunigen dürfte. Analysten werden aber nicht verschwinden, Investoren werden zielgerichteter bedient werden können und der «schöne» Geschäftsbericht wird bleiben.
Von Christoph Schlienkamp
KI kann grosse Mengen an Finanzdaten analysieren und Muster erkennen, um fundierte Schlussfolgerungen zu ziehen. Dies ermöglicht eine umfassende Analyse von Unternehmen, Märkten und Branchen, was die Qualität und Tiefe von Researchberichten verbessert. Für mich als Investor gibt es zudem merkliche Effizienzgewinne. Wollte ich mir vor wenigen Jahren einen Überblick darüber verschaffen, welche Unternehmen zum Beispiel im Wärmepumpenmarkt aktiv sind, wie die Wettbewerbssituation aussieht und wie die Chancen und Risiken einzelner Emittenten sind, so kann ich mir bereits heute mit wenigen Fragestellungen an die KI alle benötigten Informationen zusammenstellen lassen.
KI kann dabei helfen, Researchberichte auf die individuellen Bedürfnisse und Interessen von Investoren zuzuschneiden. Durch die Analyse von Investorenprofilen, Transaktionshistorien und anderen Daten können personalisierte Unternehmensberichte mit relevanten Informationen und Empfehlungen erstellt werden.
KI kann in der Textanalyse Algorithmen verwenden, um den Ton und das Sentiment von Nachrichten, Social-Media-Beiträgen und anderen Quellen zu analysieren. Dadurch kann ermittelt werden, wie die Stimmung gegenüber einem Unternehmen, einer Branche oder einem Markt ist, was wichtige Informationen für Researchberichte liefern kann.
Ob dies jetzt dazu führt, dass in Zukunft weniger Finanzanalysten bei den Banken und Brokern angestellt sind, wage ich jedoch zu bezweifeln. Anlageentscheidungen haben – und werden dies auch in Zukunft haben – immer eine nichtquantitative Komponente. Gerade Einschätzungen zum Management und Erfahrungen aus persönlichen Gesprächen mit dem Vorstand, aber auch dem Aufsichtsrat, sind vor allem bei kleineren und mittleren Unternehmen extrem wichtig, um die Frage zu beantworten, ob die strategischen Massnahmen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit erfolgreich umgesetzt werden können. Das Berufsbild des Investmentanalysten wird sich sicherlich ändern, vom heute eher zahlengetrieben Fundamentalansatz hin zur Beachtung von mehr nichtfinanziellen Aspekten. Analysten werden auch in Zukunft nicht verschwinden oder überflüssig sein. Auch inskünftig werden Menschen die Börse machen. Die Gespräche mit Emittenten werden auch in Zukunft sehr wichtig bleiben.
XBRL kann dabei helfen, den Zugang zu und die Analyse von Finanzdaten zu erleichtern. Durch die Verwendung von XBRL können Anleger Finanzberichte und andere Informationen von Unternehmen effizienter analysieren und vergleichen. Dies wird Analysten und Investoren bei der Bewertung eines Emittenten helfen.
Die Kombination von KI und XBRL kann besonders leistungsfähig sein. KI kann grosse Mengen an XBRL-Finanzdaten analysieren und Muster erkennen, um Anlageentscheidungen zu unterstützen. Durch die Verwendung von XBRL können KI-Modelle auf strukturierte Finanzdaten zugreifen und diese effektiv verarbeiten. Dies dürfte die Genauigkeit und Effizienz der KI-Analyse verbessern.
Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass KI und XBRL allein keine Anlageentscheidungen treffen sollten. Sie dienen als Werkzeuge und Informationsquellen für Anlageexperten, die ihre Expertise und Erfahrung einbringen, um fundierte Entscheidungen zu treffen, die auch andere Faktoren wie Unternehmensstrategie, Wettbewerbsumfeld, makroökonomische Bedingungen und nichtfinanzielle Aspekte berücksichtigen.
Die DVFA befürwortet das ESEF-Format (inlineXBRL), in dem Emittenten in einer visuell im Webbrowser lesbaren digitalen Fassung ihre Rechnungslegungsdaten berichten und gleichzeitig daraus einzelne Daten semantisch eindeutig und automatisiert durch IT-Systeme entnommen werden können. Allerdings ist die Zielvorgabe, «die Zugänglichkeit, Analyse und Vergleichbarkeit der Rechnungslegungsunterlagen zu erleichtern», bislang nicht erreicht worden. Derzeit ist nicht ersichtlich, ob und wann die von der EU proklamierten Ziele tatsächlich erreicht werden.
Die Digitalisierung der Abläufe zwischen den Emittenten, Behörden, Wirtschaftsprüfern, Investment- Professionals und den weiteren Beteiligten ist wünschenswert. Allerdings sollte es nicht das Ziel sein, bisherige, an das traditionelle Papierformat ausgerichtete Abläufe einfach «digital zu kopieren» oder gar – unter Fortbestand der traditionellen Prozesse – zusätzliche, digitale Abläufe einzuführen. Denn die Potenziale der Digitalisierung ergeben sich für alle Prozessbeteiligten nur dann, wenn auch die Abläufe mit Blick auf die Technologiepotenziale und neuen Regelungsbedarf überarbeitet werden. Beispielsweise haben die Themen Authentizität und Integrität von Rechnungslegungsunterlagen in der digitalen Welt eine wichtigere Rolle als in der traditionellen Papierwelt. Daher sehen wir es als zwingend an, dass elektronische Abschlüsse die erforderlichen Auszeichnungen der Wirtschaftsprüfer sowie die Unterzeichnung des Emittenten in elektronischer Form enthalten. In diesem Zusammenhang würde ein Fortbestehen der oben so bezeichneten Offenlegungslösung die gesamte Situation nicht vereinfachen, sondern unnötig erschweren; hinzu kämen neue Risiken für alle Kapitalmarktbeteiligten, Kostensenkungspotenziale würde nicht genutzt, der prozessuale Aufwand wäre unnötig.
Ist die Digitalisierung gleichzeitig ein Abgesang auf den Fortbestand des klassischen Geschäftsberichts? Die Antwort heisst eindeutig: Nein. Der schöne Geschäftsbericht wird bleiben, nicht zuletzt, weil er sich nicht nur an Kapitalmarktexperten richtet.
Christoph Schlienkamp
ist Portfoliomanager bei der GS&P Kapitalanlagegesellschaft S.A. und Geschäftsführender Vorstand der DVFA, der Vereinigung von Investment Professionals in Deutschland mit 1’400 Mitgliedern.