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Beyond Compliance: Inspiration als Katalysator einer nachhaltigen Zukunft
Der kürzlich auf Planet Erde gelandete «Alien» dürfte mit grossem Erstaunen auf die geschäftigen Menschen und ihr Zusammenspiel mit ihren komplexen Schöpfungen – den Unternehmen – blicken. Eine gewisse Absurdität im System wird ihm dabei wohl nicht entgehen: Um die Unternehmen zu lenken, hat der Mensch Regulierungen geschaffen, deren Komplexitätsgrad derart hoch sind, dass nur eine Heerschar von spezialisierten Expertinnen und Experten sie umfassend begreifen, implementieren und überwachen kann.
Von Michèle F. Sutter-Rüdisser und Patrick Zbinden
Obwohl diese Regulierungen raffiniert konzipiert sind, kommt es immer wieder vor, dass Unternehmen Handlungen vornehmen, die den menschlichen Intentionen zuwiderlaufen und weder im Interesse des Unternehmens selbst noch seiner Umwelt liegen. Diese Zwischenfälle führen zu öffentlicher Empörung, entfachen politische Debatten und resultieren häufig in noch komplexeren Regulierungsvorschlägen. Interessanterweise ist die Aufmerksamkeit für solche Ereignisse bemerkenswert flüchtig: Medien, Gesellschaft und Politik kehren überraschend schnell zur Tagesordnung zurück. Das Einzige, was bleibt, sind die Regulierungen selbst und die Hoffnung, dass die nächste Krise damit verhindert werden kann. Am Ende steht die völlige Überraschung und Empörung darüber, dass sie doch nicht in der Lage waren, den nächsten Krisenfall zu verhindern.
«Die inhärente Komplexität menschlichen Handelns und das Zusammenspiel zugrunde liegender Systeme erlauben keine simplen, eindimensionalen Lösungen.»
Die regulatorischen Herausforderungen für Unternehmen haben in den letzten Jahrzehnten spürbar zugenommen. Eine Studie von Thomson Reuters Regulatory Intelligence (2023) zeigt, dass die meisten Unternehmen davon ausgehen, dass sich dieser Trend in Zukunft fortsetzen wird. Die wiederholte Unfähigkeit von Regulierungen, ihre eigentlichen Ziele zu erreichen und die drängenden Probleme unserer Zeit zu lösen, betont die Notwendigkeit eines Umdenkens. Ereignisse wie der Zusammenbruch der Credit Suisse oder der kontinuierliche Anstieg der Treibhausgasemissionen (IPCC, 2023) untermauern diese Notwendigkeit.
Paradoxerweise liegt das eigentliche Problem in der menschlichen Natur selbst. Die inhärente Komplexität menschlichen Handelns und das Zusammenspiel zugrunde liegender Systeme erlauben keine simplen, eindimensionalen Lösungen (Sutter, 2017, S. 715). Wir befürworten einen Ansatz, der Regulierungsqualität statt Regulierungsquantität priorisiert, auch wenn die Realisierung dieses Vorhabens weitaus herausfordernder ist, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Ein isolierter Ruf nach «Qualität statt Quantität» mag Skeptiker jedoch kaum überzeugen. Die Ursache hierfür liegt im Verhalten der Unternehmen in den letzten Jahren. Eine Reihe von Unternehmensskandalen und die anhaltende Unfähigkeit, drängende Probleme unserer Zeit anzugehen, haben viele Menschen bitter enttäuscht zurückgelassen.
«Es ist an der Zeit, die Bekenntnisse der weltweit umsichtig formulierten Corporate Governance Kodizes in die Tat umzusetzen.»
Dieses Zitat von Sutter (2016) ist relevanter denn je und hebt die dringende Notwendigkeit hervor, den Worten endlich Taten folgen zu lassen. Es appelliert nach einer gewissenhaften «Good Corporate Governance», die eine proaktive Wahrnehmung unternehmerischer Verantwortung fördert. Das bedeutet ein ehrliches, aufrichtiges und nachhaltiges Engagement jedes Einzelnen im Interesse der Gesamtunternehmung und ihrer Umwelt. Dafür bedarf es des Bekenntnisses und der Selbstverpflichtung von «top-down» und «bottom-up» sowie Beharrlichkeit, Ausdauer und einer guten Portion Leidenschaft (Sutter, 2017, S. 715). Der Verwaltungsrat spielt als oberstes Führungsgremium eine zentrale Rolle, indem er Leitprinzipien wie Integrität, soziale und ökologische Verantwortung, Authentizität, Fairness und Bürgersinn verkörpert und vorlebt (Schwartz, Dunfee, & Kline, 2005). Verwaltungsratsmitglieder müssen ihre Entscheidungen objektiv und unabhängig treffen können, frei von externen Einflüssen und ohne Rücksicht auf persönliche Interessen Dritter. Dies erfordert Integrität, Unabhängigkeit, persönliches Engagement, professionelle Skepsis und die Bereitschaft, Standpunkte und Entscheidungen zu überdenken (Sutter, 2016, S. 1724–1725).
Im europäischen Marktumfeld intensiviert sich der Ruf nach Unternehmen, die eine Verantwortung übernehmen, die weit über die gesetzlichen Mindestanforderungen hinausgeht. Diese Entwicklung wird nicht nur von verschiedenen Interessengruppen wie Investoren, Kunden und Mitarbeitern vorangetrieben, sondern erscheint auch aus einer unternehmerischen Perspektive als sinnvoll. «Compliance» im engeren Sinn hat den Charakter einer Pflicht und nicht den eines motivierenden Impulsgebers. Und das ist auch gut, ja sogar notwendig. Es wäre höchst problematisch, wenn die Einhaltung von Compliance-Standards als etwas Aussergewöhnliches, als etwas Inspirierendes und nicht als Selbstverständlichkeit angesehen würde.
Wenn Unternehmen jedoch über die blosse Erfüllung von Compliance-Standards hinausgehen, eröffnet sich ein enormes Potenzial für Inspiration, Innovation und unternehmerischen Elan. Diese Dynamik, zusammen mit der Chance zur persönlichen Selbstverwirklichung kann entscheidend sein, um in einem herausfordernden Marktumfeld Geschäftsmöglichkeiten zu erkennen und zu nutzen, die letztendlich im Einklang mit den Bedürfnissen der Stakeholder-Community stehen.
In dieser Hinsicht ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, dass die notwendigen, strengen Regulierungen so ausgestaltet werden, dass sich die beschriebene unternehmerische und persönliche Leidenschaft entfalten kann und nicht durch eine Überflutung von Vorschriften im Keim erstickt wird.
Literaturverzeichnis
Intergovernmental Panel on Climate Change. (2023). Climate Change 2023: Synthesis Report. Summary for Policymakers.
Neue Zürcher Zeitung. (2023, March 29). Der Fall der Credit Suisse bringt, wie jede Krise, einen Schub von Regulierungsideen – doch es gibt keine gratis Antworten.
Schwartz, M. S., Dunfee, T. W., & Kline, M. J. (2005). Tone at the top: An ethics code for direc-tors?. Journal of Business Ethics, 58, 79-100.
Sutter-Rüdisser, M. F. (2016). Vom Damoklesschwert über dem Schweizer Verwaltungsrat und was wirklich zählt.
Sutter-Rüdisser, M. F. (2017). Corporate Governance 4.0: Ein Plädoyer für besser anstelle von mehr.
Thomson Reuters Regulatory Intelligence. (2023). 2023 Cost of Compliance. Thomson Reuters.
Prof. Dr. Michèle F. Sutter-Rüdisser
ist Titularprofessorin für Organizational Control and Governance am Institut für Law and Economics der Universität St. Gallen (ILE-HSG).
Patrick Zbinden
ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Law and Economics der Universität St. Gallen (ILE-HSG).