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Analoges und digitales Leben – ein merkwürdiger Gegensatz

Der Mensch – genauer gesagt der Homo sapiens – hat im Zuge seiner über 150 000 Jahre dauernden evolutionären Entwicklung die Kommunikation mit den eigenen Gruppenmitgliedern verfeinert. In ständigem Kontakt mit seinen Mitmenschen war er gezwungen, Vertrauen aufzubauen und zu pflegen. Dazu entwickelte er Kommunikationsstrategien, die es ihm ermöglichten, sich möglichst präzise und unter Vermeidung fataler Missverständnisse mit den Mitgliedern seiner Gruppe auszutauschen.



von Lutz Jäncke



Es ist zu bedenken, dass unsere Vorfahren über 100 000 Jahre in kleinen Gruppen von zwanzig bis hundert Personen lebten. Das gesamte biologisch fundierte Verhaltensinventar des Menschen fokussierte sich auf das Überleben in diesen kleinen Gesellschaften. Man war gezwungen, sich an die kulturellen Regeln der jeweiligen Gesellschaften anzupassen. Diese Gesellschaften oder Clans waren für unsere Vorfahren überlebenswichtig. Da verschiedene Clans unterschiedliche Regeln und Kulturen entwickeln, war es demzufolge essenziell, dass der Mensch über eine ausreichende Lernfähigkeit verfügt, die es ihm ermöglicht, sich möglichst elegant in diese von Menschen erdachten Regeln hineinzulernen. Heutzutage wird das Gehirn des Menschen mit vollkommen neuen Anforderungen konfrontiert, für das es biologisch gar nicht vorbereitet wurde. In den letzten zweihundert Jahren hat sich die Weltbevölkerung verachtfacht und die Kommunikation masiv verändert. Vor allem in den vergangenen zehn bis zwölf Jahren erlebten wir kulturelle Veränderungen, die in dieser Form in so kurzer Zeit während der gesamten Menschheitsgeschichte einmalig sind.

Erst im September 2007 präsentierte Steve Jobs das iPhone. Drei Jahre später offerierte er das iPad. Diese beiden Geräte haben die Kommunikation und das Verhalten grundlegend verändert. Nicht nur, dass zunehmend mehr Menschen auf dem iPhone (oder dessen Derivaten) Nachrichten lesen, Filme schauen und Musik hören, sondern sie kommunizieren auch damit. Mit diesen neuen Instrumenten haben sich unzweifelhaft gewinnbringende Kommunikationsmöglichkeiten eröffnet. Praktisch jederzeit und an jedem Ort stehen verlockende Informationen zur Verfügung. Man findet Verbotenes, Verruchtes, Merkwürdiges, Lehrreiches, Sinnvolles und Sinnloses im Internet – kurzum, das gesamte Produktionsinventar menschlichen Daseins wird im Internet für jedermann und zu jeder Zeit zugänglich. Und diese enorme Vielfalt von «Informationen» führt zu einer unüberschaubaren Menge an Auswahlmöglichkeiten, die uns überfordern.

Hinzu kommt, dass das Internet allen Menschen Zugang zu Reizen bietet, die biologisch relevante, aber aus Gründen des sozialen Zusammenhalts gehemmte Bedürfnisse befriedigen. Typische Beispiele sind erotische und aggressive Inhalte, die mittlerweile zu den am häufigsten gesuchten und konsumierten Internetinhalten gehören. Wir erleben heutzutage nicht nur eine Reizüberschwemmung mit überwiegend sinnlosem Material, sondern auch eine Flut von biologisch relevanten Reizen, die wir aus kulturellen Überlegungen heraus eigentlich hemmen müssten.



Die Kommunikation wird zunehmend unbiologischer

Mit den neuen Kommunikationswerkzeugen hat sich auch unser Kommunikationsverhalten massiv verändert. Wir kommunizieren via Messenger, WhatsApp, Facebook, E-Mails, Instagram oder andere Internetkanäle. Dabei treten wir in Kontakt mit Kommunikationspartnern, die wir nicht sehen, zumindest nicht im Moment des Kommunikationsaktes. Im Grunde sind unsere Gesprächspartner Avatare, also digitale Wesen, denen wir lediglich imaginativ reale Personen zuordnen. Kurzum, die Kommunikation wird zunehmend unbiologischer. Der direkte Augen- und Gesichtskontakt verschwindet, was zur Folge hat, dass wir die in über hunderttausenden von Jahren perfektionierten nonverbalen Kommunikationsmechanismen nicht mehr nutzen. Das wiederum führt zu einer enthemmten und fragmentarischen Kommunikation über die digitalen Kanäle, mit der wir dann ineffizient und höchst fehlerhaft kommunizieren. Hinzu kommt noch eine zunehmende Entstellung der verbalen Kommunikation durch unbeholfene und grammatikalisch mangelhafte Sprache. Das wäre ungefähr so, als würden wir bei einem Kinofilm die Bilder wegschneiden und den auditorischen Kanal verfremden und fragmentieren.

Reizüberflutung, verkrüppelte Kommunikation, geistige Überforderung und eine bemerkenswerte Abkehr von unserem biologischen Verhaltensinventar sind die Kennzeichen der modernen digitalen Welt. Ein Weg aus dieser fatalen Situation bietet sich durch eine stärkere Nutzung der Selbstdisziplin, um sich der Reizüberflutung und der Verlockungen der Lust zu erwehren. Die Kraft zur Selbstkontrolle entfaltet sich im Frontalkortex, der sich beim Menschen im Zuge der Evolution besonders entwickelt hat. Die dort befindlichen neuronalen Netzwerke sind uns zwar von der Natur geschenkt worden, sie verlangen aber Training, um im Alltag gewinnbringend eingesetzt zu werden.


Wir erleben heutzutage eine Reizüberschwemmung mit überwiegend sinnlosem Material.

Weniger ist mehr

Wir müssen unsere digitale Welt an vielen Punkten überschaubarer und damit bewältigbarer gestalten. Das bedeutet, dass wir uns vor dieser Reizüberflutung bewahren und gleichzeitig auch darauf achten müssen, dass die biologisch fundierte nonverbale Kommunikation gepflegt wird. Wir müssen uns anleiten, bestimmte Dinge konzentriert und kontrolliert über längere Zeit zu bewältigen. Vor allem müssen wir lernen, dass «weniger mehr ist». Die Konzentration auf Wesentliches muss in Zukunft im Vordergrund stehen und nicht die Hingabe an das Beliebige.

Der Mensch ist im wahrsten Sinne des Wortes blind für das, was um ihn herum passiert. Man muss sich vergegenwärtigen, dass pro Sekunde etwa elf Millionen Bit auf unser Sensorium treffen. Davon nehmen wir lediglich elf bis fünfzig Bit (!) pro Sekunde bewusst wahr. Was unbewusst den Weg in unser Gedächtnis findet, wissen wir nicht genau. Wir vermuten, dass ungefähr ein Drittel – also circa drei Millionen Bit – ins Unbewusste gelangen. Das, was wir bewusst wahrnehmen, wird von der «Taschenlampe der Aufmerksamkeit» gesteuert. Wir richten den Strahl der Aufmerksamkeit auf einen kleinen, subjektiv ausgewählten Teil der Welt und nehmen alles wahr, was sich im hellen Schein dieses Aufmerksamkeitsstrahls befindet. Alles, was sich ausserhalb dieses Strahls befindet, erkennen wir gar nicht. Wir sind blind für diesen Teil der Welt. Wir sollten aber, gerade weil wir in einer sich globalisierenden Welt leben, den Taschenlampenstrahl unserer Aufmerksamkeit auch auf andere Aspekte der Welt lenken. Das erweitert im wahrsten Sinne des Wortes unseren Horizont. Wir fügen dann unserem Erfahrungsschatz neue und oft wertvolle Informationen hinzu und lernen, andere Menschen und andere Kulturen mit anderen «Augen» zu sehen. Da sich unser Denken auf der Basis unserer Erfahrungen vollzieht, wird sich dieses durch die veränderten Erfahrungen ebenfalls verändern. Andere Positionen und Rollen einzunehmen, gegen die allgemeine Meinung zu argumentieren, schult unser Denk- und Urteilsvermögen. Für den Aussenstehenden denken wir dann quer oder einfach anders, manchmal sogar produktiver. Querdenken ist meines Erachtens eine Notwendigkeit, um in der sich globalisierenden Welt zu bestehen.

Man muss sich vergegenwärtigen, dass pro Sekunde etwa elf Millionen Bit auf unser Sensorium treffen. Davon nehmen wir lediglich elf bis fünfzig Bit (!) pro Sekunde bewusst wahr.

Neue Inhalte und Neue Medien haben schon jetzt zu einer kulturellen Revolution geführt, die innerhalb kürzester Zeit unsere Gesellschaft und unser Verhalten stärker verändert haben als die Erfindung des Buchdrucks. Trauen wir uns doch, diese neuen Inhalte und Medien zu verwenden. Wir dürfen allerdings nicht vergessen, auch unsere Grundfertigkeiten zu pflegen, die für das Überleben in unserem Kulturkreis von herausragender Bedeutung sind. Denken, die Vergangenheit verstehen, Kommunizieren, Empathie und Vertrauen sind wichtige Fertigkeiten, die wir auch als Erwachsene üben müssen. Aber über allem steht die Selbstdisziplin, die über unseren Frontalkortex vermittelt wird. Sie muss erhalten und mehr denn je trainiert werden, damit wir uns in Zukunft nicht im Meer der Belanglosigkeiten und im Nebel der digitalen Welt verlieren.



Prof. Dr. Lutz Jäncke

Prof. Dr. Lutz Jäncke

Prof. Dr. Lutz Jäncke studierte Psychologie, Neurophysiologie und Hirnforschung an der Ruhr-Universität Bochum, an der TU Braunschweig und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seit April 2002 ist er Ordinarius für Neuropsychologie an der Universität Zürich. Jäncke beschäftigt sich in seinen wissenschaftlichen Arbeiten vorwiegend mit der funktionellen Plastizität des menschlichen Gehirns. Bislang hat Lutz Jäncke mehr als 400 Originalarbeiten, 50 Buchkapitel und mehrere Bücher publiziert und gehört damit zu den 1% der am häufigsten zitierten Wissenschaftler.


Dieses Interview ist auch in der Fachzeitschrift «The Reporting Times» № 16 erschienen – lesen Sie weitere spannende Artikel und Interviews in der Online-Ausgabe!