Kaum ein Thema der externen Berichterstattung wird derzeit prominenter diskutiert als die Frage, wie technologische Innovationen Unternehmen dabei unterstützen können, die Komplexität der Herausforderungen zu bewältigen, welche mit den anstehenden neuen regulatorischen ESG-Berichterstattungspflichten einhergehen. Gleichzeitig arbeiten Unternehmen zunehmend daran, die interne Steuerung im Sinne eines umfassenderen Ansatzes weiterzuentwickeln. Dieser soll zu einem ganzheitlichen Entscheidungsprozess führen, der auch die nichtfinanziellen Auswirkungen der Geschäftstätigkeit berücksichtigt.
Es mag daher überraschen, dass dieser Artikel mit einem 500 Jahre-Rückblick beginnt, um besser zu verstehen, was wir heute vom "Vater" der Rechnungslegung und Finanzberichterstattung, Luca Pacioli, für einen modernen nichtfinanziellen Berichtsrahmen lernen können.
Von Prof. Dr. Christopher Sessar
Der "Vater der Rechnungslegung": Rückblick auf die Grundlagen der modernen Finanzbuchhaltung
Luca Pacioli wurde 1445 in einer Region geboren, die wir heute als die Toskana in Italien kennen. Nach seinem Studium der Arithmetik und Mathematik in Mailand wurde Pacioli Dozent an verschiedenen Universitäten und begann, Bücher über Mathematik zu veröffentlichen. Die bedeutendste und einflussreichste Veröffentlichung, die "Summa de arithmetica, geometria, proportioni et proportionalita", war der erste Text, der Überlegungen zur doppelten Buchführung enthielt und aus heutiger Sicht eine bahnbrechende Neuerung darstellt, die auch nach mehr als fünf Jahrhunderten Ausgangspunkt und grundlegende Basis für jeden (Finanz-)Buchhalter darstellt.
Das Schöne an Paciolis Konzept und Grundlage dessen Erfolges ist sicherlich die Kombination aus einem analytischen, prinzipienbasierten Ansatz und einer Einfachheit, die es Buchhaltern im Grunde auch heute noch ermöglicht, hochkomplexe Buchhaltungsfragen mit der Einfachheit einer Soll/Haben-Journalbuchung in Einklang zu bringen. Bahnbrechend an Paciolis Konzept war auch die Verbindung der Fachgebiete Wirtschaft und Arithmetik/Mathematik: Pacioli selbst sagte folgerichtig: " Ein guter Geschäftsmann muss mehr können als ein Doktor der Rechtswissenschaften.". Herbert J. Muller sagte über Paciolis Arbeit: "nur wenige haben von Fra Luca Pacioli, dem Erfinder der doppelten Buchführung, gehört, aber er hat das Leben der Menschen wahrscheinlich viel mehr beeinflusst als Dante oder Michelangelo."
Gestaltungsprinzipien von Pacioli für eine moderne nichtfinanzielle Berichterstattung
Lassen Sie uns noch einmal analysieren, was die entscheidenden Erfolgsfaktoren waren, die dazu geführt haben, dass sich Wirtschaft und Handel heute revolutionär von früher unterscheiden: Für mich sind vor allem vier Aspekte von Bedeutung, die auch bei der Diskussion über Frameworks zur nichtfinanziellen Berichterstattung im 21. Jahrhundert berücksichtigt werden sollten.
‘(i) "Genauigkeit/Präzision", die mit (ii) "Überprüfbarkeit" einhergeht: Das Konzept stützt sich weder auf Vermutungen noch auf Schätzungen, sondern auf ein striktes Transaktionsmodell, bei dem jede Transaktion zweimal in den Finanzdaten mit einem entsprechenden Geldwert erfasst wird. Dies gewährleistet ein Höchstmass an Transparenz, ermöglicht einen Abgleich der Daten und ist die Grundlage für die Überprüfbarkeit, die letztlich zu Vertrauen führt - der grundlegenden und ultimativen Währung im Geschäftsleben. Wenn wir uns heute ansehen, wie Unternehmen ihre nicht-finanzielle Berichterstattung verfassen, stellen wir fest, dass "guesstimates" (Durchschnittswerte und Schätzungen über eine Vielzahl von Transaktionen) immer noch der vorherrschende Ansatz sind, während die transaktionsbasierte Erfassung und Berichterstattung eher die Ausnahme sind. Eine Umrechnung in €/$-Beträge oder eine Überleitung in monetäre Dimensionen gibt es kaum. Folglich ist das Vertrauen in die gemeldeten nicht-finanziellen Daten nach wie vor gering, auch wegen der begrenzten Überprüfbarkeit (bzw. der begrenzten Prüfungssicherheit, die bei diesem Ansatz erreicht werden kann).
Pacioli selbst sagte: "Ohne Ordnung herrscht Chaos", was zum nächsten Gestaltungsprinzip führt, nämlich (iii) "(globale) Konvention und Standardisierung": Obwohl es auch heute noch verschiedene Rechnungslegungsstandards gibt, folgt die Art und Weise, wie finanzielle Journaleinträge erfasst werden, den von Pacioli aufgestellten Grundsätzen einer doppelten Buchführung. Dadurch wird zumindest bis zu einem gewissen Grad sichergestellt, dass Finanzberichte von Unternehmen, die nach unterschiedlichen Rechnungslegungsvorschriften berichten, miteinander verglichen und von einem Regelwerk zum anderen abgestimmt werden können, um die Vergleichbarkeit weiter zu erhöhen:
Das zugrundeliegende Konzept Paciolis ist somit ein Katalysator für die Überwindung regulatorischer Unterschiede. Eine Analyse der heutigen Regulierung der nicht-finanziellen Berichterstattung zeigt, dass es an einer solchen Mindestkonvention fehlt, z.B. wie der Kohlenstoff-Fussabdruck erfasst werden sollte. Vielmehr scheint es einen "Kampf" unterschiedlicher und konkurrierender, nicht prinzipienbasierter Regelwerke zu geben, die es kaum erlauben, z.B. zwei nicht-finanzielle Berichterstattungskennzahlen in Einklang zu bringen, die nach zwei verschiedenen Frameworks erstellt wurden. Wir sollten die Bedeutung der "(globalen) Konvention und Standardisierung" nicht unterschätzen, denn sie beschleunigt die Standardisierung und damit die digitale Automatisierung der nicht-finanziellen Berichterstattung: Paciolis Arbeit ist noch heute die Grundlage für viele Finanz-IT-Module und Ledger-Lösungen in ERP-Systemen, die regulative Unterschiede auf einen gemeinsamen technologischen Nenner bringen können.
Schliesslich war, wie bereits erwähnt, (iv) die "Einfachheit" der Schlüssel zum Erfolg von Paciolis Ansatz. Dies bezieht sich auf die grundlegenden Regeln für die Verbuchung von Finanztransaktionen - das Konzept von Soll und Haben und der doppelten Buchführung, das sehr intuitiv ist. Die Einfachheit sollte jedoch nicht missverstanden werden: Viele Ersteller nicht-finanzieller Abschlüsse behaupten zu Recht, dass die transaktionsbezogene Buchhaltung im Bereich Kohlenstoff die Komplexität enorm erhöhen wird, die Datenqualität schlecht ist, die Datenerstellungsprozesse nicht standardisiert sind und sich die Zahl der zu erfassenden Buchungen vervielfachen kann. All dies ist korrekt. Es ist allerdings nicht bekannt, ob Pacioli vor rund 500 Jahren und vor einer Zeit, in der moderne ERP-Systeme, Buchhaltungsinformationssysteme, analytische Lösungen und In-Memory-Datenbanken dazu beitrugen, Buchhaltungsprozesse zu digitalisieren und zu automatisieren, ähnliche Rückmeldungen erhielt. In jenen frühen Zeiten des modernen Rechnungswesens mögen Händler und Kaufleute ebenfalls vorgeschlagen haben, sich lieber (weiterhin) auf vereinfachte Cash-Flow-Betrachtungen zu verlassen. Heute ist jedoch klar, dass die Vorteile der transaktionalen Buchführung - sollten diese Bedenken jemals bestanden haben - im Laufe der Zeit die Kritiker des Konzepts überzeugt haben.
Andererseits wäre es auch naiv zu glauben, dass eine transaktionsbezogene nicht-finanzielle Berichterstattung auf der Grundlage einer Ledger-Lösung kurzfristig eingeführt werden könnte. Es könnte sich um einen mehrjährigen Transformationsprozess handeln, der z.B. für Hotspots kohlenstoffintensiver Geschäftsfelder begonnen und im Laufe der Zeit kontinuierlich ausgebaut werden könnte.
Schlussfolgerung: "Green Ledger" als disruptive (holistische) Ableitung von Paciolis Werk
Wenn Standardsetzer, Wirtschaftsprüfer, externe Berichterstatter und die Wissenschaft heute darüber diskutieren, welche Innovationen notwendig sind, um die Wertschöpfung eines Unternehmens ganzheitlich abzubilden, wird manchmal übersehen, dass eine sinnvolle Weiterentwicklung der transaktionalen Buchhaltung vielleicht die vielversprechendste Antwort sein könnte, wenn wir damit jahrhundertealte Erfahrungen in der Finanzbuchhaltung mit - modifizierten - modernen Business-Software-Technologien verbinden.
Eine solche transaktionsbasierte ESG-Berichterstattung auf der Grundlage des "Green Ledger" wird jedoch die heutigen Berichterstattungspraktiken, die sich auf Schätzungen und Durchschnittswerte stützen, sicherlich nicht über Nacht ersetzen. Übergangsweise werden beide Ansätze, "Durchschnittswerte und tatsächliche Werte" nebeneinander bestehen, und es wird auch einen stärkeren Fokus auf bestimmte ESG-Aspekte (z. B. Kohlenstoffberichterstattung) als auf andere geben.
Wenn man andererseits bedenkt, dass die Relevanz der nicht-finanziellen Berichterstattung weiter zunehmen wird und erkennt, welche enormen monetären Werte z.B. in bestimmten kohlenstoffintensiven Branchen implizit vorhanden sind, könnte man erwarten, dass Unternehmen langfristig kaum eine andere Wahl haben werden, als auf eine (vollständig) automatisierte transaktionale nicht-finanzielle Datenbasis umzustellen, die auch die Grundlage für wesentlich bessere interne Entscheidungsprozesse sein wird.
Hinweis: Der Text wurde aus der Originalsprache Englisch ins Deutsche übersetzt. Der englische Originaltext ist massgebend und hier verfügbar.
Prof. Dr. Christopher Sessar
ist Chief Accounting Officer und Head of Corporate Financial Reporting der SAP sowie Executive Sponsor für Nachhaltigkeit im Finanzvorstand der SAP. Er ist Mitglied des Verwaltungsrats des Deutschen Rechungslegungs Standards Committee (DRSC), des AKEU und der Working Group Digital Reporting der Schmalenbach Gesellschaft. Im Januar 2023 wurde er zum Honorarprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ernannt, wo er Vorlesungen zum Thema "Digitalisierung des Finanzwesens" hält, die sich auch mit Fragen der nichtfinanziellen Berichterstattung befassen.