In der Aufarbeitung der vor ziemlich genau zehn Jahren ausgebrochenen Finanzmarktkrise von 2008 und deren nachfolgender „grosser Rezession“ prognostiziert Lawrence Summers, einst US-Finanzminister unter Bill Clinton und später unter US-Präsident Barack Obama Direktor des National Economic Council, der Welt eine lange Phase schwachen ökonomischen Wachstums mit entsprechend negativen Rückwirkungen auf den durchschnittlichen Lebensstandard. Mag sein, dass er recht hat. Aber vielleicht hat die in der Tat festgestellte Verlangsamung beim Wachstum gar nicht so viel mit der realen Wirtschaft zu tun. Vielleicht liegt das Problem ganz woanders, nämlich in den statistischen Ämtern. So jedenfalls stellen drei Ökonomen von der amerikanischen Notenbank (Fed) und dem IWF die Frage: „Haben die USA ein Produktivitätsproblem oder ein Messproblem?“. Zwar scheinen ihre Ergebnisse eindeutig: „Wir finden wenig Belege, dass der Produktivitätsrückschritt ein Messproblem ist.“ Trotzdem bleiben Zweifel. Denn die Autoren attestieren, dass es viele Unbekannte gebe, für die keine brauchbaren und verlässlichen Statistiken vorliegen, wie für die Effekte von „Big Data“ oder der „Sharing Economy“.
Wie soll das Bruttoinlandprodukt (BIP), das Mass aller statistischen Dinge, das „Unmessbare messbar machen“? Wenn sich Dinge so schnell und so fundamental ändern, wie das bei disruptiven Prozessen der Fall ist, wenn viele Veränderungen unsichtbar erfolgen, weil sie sich in den virtuellen Clouds des weltweiten Internets abspielen oder – und viel banaler – wenn sich Austausch und Handel der statistischen Erfassung erziehen, weil vieles nicht (mehr) über Märkte gekauft, sondern zwischen Haushalten geteilt und getauscht wird, wie es typisch ist für eine Sharing Economy, in der es um die Nutzung und nicht das Besitzen geht, wenn das alles mehr oder weniger gleichzeitig passiert, dann haben Statistiken und Masszahlen, die für eine ganz andere Welt vergangener Zeiten entwickelt wurden, ein echtes Messproblem!
Für viele der von Raum und Material losgelösten Neuerungen der Digitalisierung fehlen schlicht (noch) die gesamtwirtschaftlichen statistischen Masszahlen. Informationsgüter mit Netzwerkcharakter werden bestenfalls teilweise erfasst. Wenn moderne Apps oder Plattformen, wie Uber, Car2go oder Airbnb, eine Sharing Economy und damit eine weitaus effizientere Ausnutzung vorhandener Güter, Autos oder Wohnungen ermöglichen, bildet das BIP, wenn überhaupt, so nur mit rudimentären Näherungen die Auswirkungen ab.
Eine beachtliche Fülle von Konsumgütern wird im Internet nahezu kostenlos zur Verfügung gestellt und erscheint somit nicht im BIP. Dies ersetzt aber den Kauf alternativer Marktprodukte, die im BIP erfasst waren. Wenn Wikipedia den Zugriff zu einem Online-Lexikon und YouTube das Abspielen von Videos und Filmen ermöglicht oder wenn Nerds ihre selbstentwickelten Spiele, Software, Musikvideos oder Fotos für die Allgemeinheit aufs Netz legen, dann erhalten die Nutzer etwas, ohne dafür nennenswert bezahlen zu müssen. Aber obwohl Zufriedenheit oder Wohlbefinden der Menschen steigen, fällt das BIP, weil weniger Lexika oder DVDs gekauft werden. Gleiches gilt, wenn kostenpflichtige Printmedien durch frei zugängliche elektronische Nachrichtenportale ersetzt werden. Dann erhalten Menschen billiger, schneller und einfacher Zugang zu Informationen. Das BIP jedoch sinkt, weil traditionelle Medien wie Zeitungen und Zeitschriften Umsatzeinbussen erleiden, was zu Entlassungen und geringerer Wertschöpfung führt.
Die Wertschöpfung im Internet, der virtuelle Handel mit digitalen Daten sowie die Effekte einer Sharing Economy, in der gerade „teure“ langlebige Güter – wie Wohnungen, Autos oder Elektrogeräte – gemeinsam genutzt und nicht einzeln erworben werden, entziehen sich in beachtlichen Teilen der sächlichen Erfassung, räumlichen Zuordnung und zeitlichen Abgrenzung. Deshalb sind das BIP und seine Messverfahren von geringerer Aussagekraft denn je. Das zu erkennen, ist nicht nur eine minimale Anforderung an die Wissenschaft, die nach neuen und besseren Methoden zu suchen hat. Es muss auch Öffentlichkeit und Medien vermittelt werden, wie unsinnig es geworden ist, sich beim BIP um marginale Schwankungen hinter dem Komma Gedanken zu machen oder gar Sorgen oder Euphorie zu verbreiten, wenn grundsätzliche Probleme das ganze Konzept in Frage stellen.
Messfehler beim BIP haben natürlich auch fundamentale Folgen beim Reporting. Wenn falsch gemessen wird, werden auch Risiken falsch eingeschätzt, Buchwerte über- oder unterschätzt und bei Prüfprozessen von Unternehmensbilanzen unzutreffende Urteile gefällt. Ohne fundamentale Anpassung von Statistiken droht Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsprüfung, Reporting und Bewertung zunehmend ein Stochern im Nebel der Unschärfe und Ungenauigkeit. Um Messfehler künftig zu verringern und zu verhindern, sollten Wirtschaft, Politik und Gesellschaft – mehr denn je – Abschied nehmen vom alten BIP-Konzept. Stattdessen bedarf es einer Neuvermessung der (Welt-)Wirtschaft.
Über den Autor
Prof. Dr. Thomas Straubhaar ist Professor der Universität Hamburg für Volkswirtschaftslehre, insbesondere internationale Wirtschaftsbeziehungen und Direktor des Europa-Kolleg Hamburgs. Er ist Gründer und Stiftungsvorstand des Club of Hamburg. Von 1999-2014 hat er das Hamburgische WeltWirtschaftsInstitut HWWI und dessen Vorgängerinstitut HWWA geleitet. Zuvor hat er an den Universitäten Bern, Basel, Konstanz, Freiburg i. Br. und an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg als Lehrstuhlvertreter oder Professor geforscht und gelehrt.